Die Anwendung von latenten Wachstumskurvenmodellen auf die PROTOS-Daten

Die Anwendung von latenten Wachstumskurvenmodellen auf die PROTOS-Daten

Das Ziel der hier berichteten Datenanalysen bestand darin, die Methode der latenten Wachstumskurvenmodelle im Rahmen des vom BMBF geförderten Projekts „Ergebnismessung in der medizinischen Rehabilitation“ (siehe auch www.forschung-patientenorientierung.de) auf die Daten des PROTOS-Projekts (Gerdes et al. 2000) anzuwenden, um die Möglichkeiten dieser Methode im Kontext der Veränderungsmessung zu veranschaulichen (vgl. auch Farin, 2010).

Latente Wachstumskurvenmodelle, die in der internationalen Literatur unter den verwandten Begriffen und Konzepten „latent growth curve modeling“ (Duncan et al., 2006), „growth mixture modeling“ (Muthen, 2004) oder „group-based trajectory modeling“ (Nagin und Odgers, 2010) behandelt werden, haben sich in den letzten Jahren zu einer Standardmethodologie der Veränderungsmessung entwickelt. Die Methode (die im Folgenden mit LGCM = latent growth curve modeling abgekürzt wird) ermöglicht die Modellierung von Veränderungen über mehrere Messzeitpunkte und wird von verschiedenen Autoren als bedeutende Neuentwicklung auf dem Gebiet der Analyse längsschnittlicher Studiendaten angesehen. So führen z.B. Byrne und Crombie (2003, S. 178) aus: „it seems evident that LGC modelling has the potential to revolutionize analyses of longitudinal research.“

In der PROTOS-Studie (Gerdes et al., 2000) wurde der IRES-Fragebogen (Indikatoren des Reha-Status) in der Version 2 (Gerdes und Jäckel, 1992) bei kardiologischen und orthopädischen Rehabilitanden zu vier Messzeitpunkten (Reha-Beginn, Reha-Ende, 6 und 12 Monate nach Reha-Ende) eingesetzt. Das Instrument weist drei Dimensionen (Somatischer Status, Funktionaler Status, Psychosozialer Status) auf, denen insgesamt sechs Unterdimensionen (Schmerzen/Symptome, Risikofaktoren, Beanspruchungen im Beruf, Behinderungen im Alltag, Psychische Belastung, Soziale Probleme) zugeordnet werden können.

Für die Auswertungen wurden drei verschiedene Untergruppen im PROTOS-Datensatz betrachtet: Die Gruppe der kardiologischen Patienten (N=1.372), die Gruppe der orthopädischen Patienten (N=756) und – eine Teilstichprobe der orthopädischen Patienten – die Gruppe der Patienten mit Rückenschmerzen (N=168). Für die Durchführung von GMMs wurde die Software Mplus (Version 5.2) verwendet (Muthen und Muthen, 2007), ergänzend wurden mit SPSS/PASW (Version 18) logistische Regressionsanalysen gerechnet.

Die Ergebnisse von GMMs können aufgrund der Differenzierung nach Subgruppen interessante Befunde liefern, die ansonsten durch die Mittelung über heterogene Veränderungsverläufe unentdeckt blieben. Dadurch werden ggf. auch klinisch relevante Fragen aufgeworfen. Zum Beispiel wurde bei den hier durchgeführten Analysen deutlich, dass sich verschiedene Gruppen von Rückenschmerzpatienten unterscheiden lassen, die kurzfristig sehr unterschiedlich von der Rehabilitation profitieren. Bei den stärker von der Reha Profitierenden stellt sich die Frage, wie diese Erfolge besser verstetigt werden können. Sind bei dieser Gruppe unter Umständen besondere Nachsorge-Schwerpunkte sinnvoll? Bei der Gruppe, die trotz hoher Eingangsbelastung kurzfristig weniger von der Reha profitiert, stellt sich die Frage, woran das liegt. Sind unter Umständen die Behandlungskonzepte in zu geringem Maße auf die besonderen Bedürfnisse dieser Gruppe abgestimmt?

Latente Wachstumskurvenmodelle sollten angewandt werden, wenn längsschnittliche, rehabilitationswissenschaftliche Datensätze im Hinblick auf Veränderungsverläufe über drei oder mehr Messzeitpunkte analysiert werden sollen. Empfehlungen zu den bei dieser Methode zu berichtenden Ergebniswerten hat jüngst – speziell für die Rehabilitation – z.B. Jackson (2010) gegeben. Bei der Anwendung der GMMs und der LGCMs ist jedoch allgemein zu beachten, dass die Analysen ohne eine Validierung erst einmal als explorativ zu betrachten sind. Der Nützlichkeitsnachweis der Typenbildung sollte durch eine Replikation in einer zweiten, unabhängigen Stichprobe geführt werden.

Literatur

Byrne BM, Crombie G. Modeling and testing change: An introduction to the latent growth curve model. Understanding Statistics 2003; 2(3):177-203.

Duncan TE, Duncan SC, Strycker LA. An introduction to latent variable growth curve modelling (2nd ed.) Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum, 2006.

Farin E. Latente Wachstumskurvenmodelle in der Versorgungsforschung: Eine Anwendung bei Rückenschmerz-Patienten. Monitor Versorgungsforschung (Sonderband) 2010, 54 (9. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung 30.9. -2.10.2010 in Bonn).

Gerdes N, Jäckel WH. „Indikatoren des Reha-Status (IRES)“ – Ein Patientenfragebogen zur Beurteilung von Rehabilitationsbedürftigkeit und -erfolg. Rehabilitation 1992; 31:73-79.

Gerdes N, Weidemann H, Jäckel WH. Die PROTOS-Studie. Darmstadt: Steinkopff, 2000.

Jackson DL. Reporting results of latent growth modeling and multilevel modeling analyses: Some recommendations for rehabilitation psychology. Rehabilitation Psychology 2010; 55(3):272-285.

Muthen BO. Latent variable analysis: Growth mixture modeling and related techniques for longitudinal data. In: Kaplan D (Editor). Handbook of quantitative methodology for the social sciences. Newbury Park, CA: Sage, 2004: 345-368.

Nagin DS. Group-based modeling of development. Cambridge (MA): Harvard University Press, 2005.

Nagin DS, Odgers CL. Group-Based Trajectory Modeling in Clinical Research. Annual Review of Clinical Psychology 2010; 6(1):109-138.