Interregio-Studie

Zusammenfassung Interregio-Studie:

Die INTERREGIO-Studie, die von 1994 bis 1997 in sechs Rehabilitationseinrichtungen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz durchgeführt wurde, fiel in eine Zeit tiefgreifender Umbrüche in den Gesundheitsversorgungssystemen der drei Länder. Die Wandlungsprozesse betrafen nicht zuletzt das Rehabilitationssystem, das – zumal in Deutschland – bis dahin eine gewisse Sonderexistenz geführt, nun aber plötzlich unter Stichworten wie „Kosteneinsparung“, „Qualitätssicherung“, „evidence-based-medicine“, „managed care“ etc. den gleichen Rationalisierungszwängen unterworfen wurde wie die übrigen Bereiche der gesundheitlichen Versorgung.

Die INTERREGIO-Studie selbst wurde von diesen Umbrüchen insofern direkt betroffen, als sich die Verschärfung der Zugangskriterien zur Rehabilitation bei der Zielgruppe der Studie – Patienten mit unspezifischen chronischen Rückenschmerzen – nachteilig ausgewirkt und eine Verlängerung der Aufnahmephase notwendig gemacht hat. Auf der anderen Seite glauben wir allerdings auch, dass die Studie von dieser schwierigen Zeit des Umbruchs profitiert hat: Wenn bis dato geltende Lösungen plötzlich grundlegend in Frage gestellt sind, wächst die Bereitschaft, sich bei den Nachbarn umzusehen, die Struktur der Probleme und ihre Lösungsansätze miteinander zu vergleichen und voneinander zu lernen. Eben dies war die leitende Intention der INTERREGIO-Studie, und diese Intention wurde durch die kritische Situation der Rehabilitation eindeutig stärker gefördert als behindert.

So liegt denn auch der Gewinn, der aus der Studie resultiert, nicht nur in den wissenschaftlichen Ergebnissen und den Konsequenzen, die daraus für eine Weiterentwicklung der Rehabilitationspraxis in den drei Ländern gezogen werden können. Ebenso wichtig erscheinen einige „Nebeneffekte“, die hier besonders erwähnt werden sollen:

Schon nach den ersten Treffen zur Abstimmung der Erhebungsinstrumente und Untersuchungstechniken, vor allem aber während des „Internationalen Workshops zur Epidemiologie der chronischen Rückenschmerzen“ in den Ländern der „Regio“ wurde in beinahe bestürzender Weise sichtbar, wie wenig wir auf dem Gebiet der gesundheitlichen Versorgung in den drei Ländern bisher voneinander gewusst haben und wie fremd uns die Nachbarn geblieben sind – und zwar sowohl im Hinblick auf die Strukturen ihrer Versicherungs- und Versorgungssysteme als auch auf Praxis und Forschung im Bereich der Rehabilitation. Um aus deutscher Sicht zu sprechen: Wir wissen über Rehabilitationsprogramme und Forschungsergebnisse aus den USA, Großbritannien und den skandinavischen Ländern ungleich mehr als über die Verhältnisse bei unseren nächsten Nachbarn in der Regio. Insbesondere Frankreich ist uns in dieser Hinsicht – bei aller politischen und wirtschaftlichen Annäherung – buchstäblich eine terra incognita geblieben. Das liegt zum einen natürlich an den Sprachbarrieren: Die Deutschen können sich in der Regel auf Französisch ebenso wenig verständlich machen wie umgekehrt, und die englische Sprache ist in Frankreich als lingua franca der Wissenschaft noch weniger akzeptiert als in Deutschland. (In der Studie konnte dieses Problem dank unserer französischen Mitarbeiterin, Frau Dr. D. Metzger, gut gelöst werden.) Die „Entdeckung der gegenseitigen Fremdheit“ war möglicherweise umso frappierender, als sich in den bisher zehn INTERREGIO-Treffen sehr schnell eine Atmosphäre freundschaftlicher Kollegialität herausgebildet hat, die sich aber nur schwer artikulieren konnte – und zwar nicht nur wegen Sprachproblemen, sondern vor allem wegen des beinahe absoluten Mangels an Kenntnissen über die Arbeitssituation und ihre Hintergründe bei den Kollegen in den jeweils anderen Ländern.

Ein erstes Verdienst der Studie kann deshalb darin gesehen werden, das ganze Ausmaß des Mangels an Kommunikation und Kooperation sichtbar gemacht und Lösungsansätze aufgezeigt zu haben, die sich zunächst in der Studie selbst konkretisiert haben: Die INTERREGIO-Treffen haben gezeigt, dass es – trotz Sprachbarrieren und unterschiedlicher sozialversicherungsrechtlicher Einbindung – gelingen kann, Einigkeit hinsichtlich Ein- und Ausschlußkriterien, Meßzeitpunkten und Outcome-Instrumenten zu erzielen und einen fruchtbaren Austausch zwischen sechs Kliniken aus drei verschiedenen Ländern zu initiieren. Insofern die durch die INTERREGIO-Studie angeregte Zusammenarbeit im Department für interdisziplinäre Fort- und Weiterbildung des Hochrhein-Instituts und imDeutsch-Schweizerischen Zentrum für Fibromyalgie sowie in Form von Vorträgen in den Partnerkliniken ausgebaut werden konnte, ist darüber hinaus ein erster exemplarischer Schritt gelungen, um in Rehabilitationspraxis und –forschung eine grenzüberschreitende europäische Perspektive einzunehmen.

Zu den Studienzielen im engeren Sinne gehörte die Analyse der Rehabilitationsprogramme, die in den Studienkliniken bei Patienten mit unspezifischen chronischen Rückenschmerzen eingesetzt werden, und der Effekte, die dabei erzielt werden.

Die Zielgruppe der Patienten mit unspezifischen chronischen Rückenschmerzen wurde deshalb als Studienobjekt ausgewählt, weil diese Diagnose einerseits in allen Industrieländern stark angestiegen ist und inzwischen mit ihren direkten und indirekten Kosten die teuerste „Volkskrankheit“ darstellt, andererseits aber erfolgversprechende Behandlungskonzepte – außer sehr aufwendigen Programmen zum work hardening – kaum zur Verfügung stehen. Auf diesem Hintergrund sollte die Studie klären, wie die medizinische Rehabilitation in den drei Ländern mit diesen Problemen umgeht und ob die Einbindung der Rehabilitation in verschiedene Sozialversicherungssysteme, bei sehr unterschiedlichem Ausmaß von Kostenbeteiligung der Patienten, verbunden ist mit Unterschieden bei den Rehabilitationsabläufen, den Therapieformen und den Rehabilitationseffekten.

Die wichtigsten Merkmale der Sozialversicherungssysteme und ihrer Auswirkungen auf die Rehabilitation in den drei Ländern sind in Anhang 1 zusammengefasst. Aus Sicht der Rehabilitanden wirken sie sich so aus, dass die Selbstbeteilungsquote in Deutschland auch nach dem Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) 1993 noch als relativ niedrig bezeichnet werden kann, während sie in Frankreich als mittel und in der Schweiz (häufig abgedeckt durch private Zusatzversicherungen) als hoch einzustufen ist. Verglichen mit den deutschen und schweizerischen Studienkliniken besteht eine Besonderheit der französischen Klinik in Morsbronn-les-Bains darin, dass die Patienten außerhalb der Klinik in Privatpensionen wohnen und die Kosten für Logis und Verpflegung selbst tragen. Nur die Kosten der medizinischen Behandlung werden von der Krankenkasse übernommen.

Diese Ausgangssituation enthielt die Aufforderung zu prüfen, ob die unterschiedlichen Formen der Selbstbeteiligung sich in den Effekten der Rehabilitation wiederspiegeln, d.h. ob die höheren direkten Kosten, die von den Patienten in Morsbronn-les-Bains aufgebracht werden müssen, zu einer Erhöhung der Reha-Motivation führen (bzw. höher motivierte Patienten anziehen) und so zu einer Verbesserung der Effekte beitragen. Da jedoch in Morsbronn-les-Bains eher niedrigere Effekte erzielt wurden als in den anderen Kliniken, kann die Hypothese in dieser Form nicht bestätigt werden.

Zwischen den Studienkliniken gab es jedoch nicht nur Unterschiede, die auf die verschiedenen Sozialversicherungssysteme zurückzuführen sind, sondern auch ganz erhebliche Unterschiede in Art und Dauer der Rehabilitationsprogramme für Patienten mit chronischen Rückenschmerzen: So bestand das Therapieprogramm in der Morsbronner Klinik bei einer Aufenthaltsdauer (AD) von drei Wochen im wesentlichen aus passiven balneologischen Anwendungen, während in der deutschen Klinik in Bad Säckingen (AD: vier Wochen) und der schweizerischen Klinik in Rheinfelden (AD: drei Wochen) ein umfassendes Programm aus passiven balneologischen und physikalischen Anwendungen, aktiven krankengymnastischen und bewegungstherapeutischen Elementen und Maßnahmen zur Gesundheitsförderung, Rückenschule und Entspannungstraining durchgeführt wurde. Die schweizerische Klinik in Bad Zurzach (AD: drei Wochen) setzte Elemente aus den work hardening-Programmen ein und war damit am stärksten auf eine aktivierende Therapie ausgerichtet. (Die beiden anderen französischen Kliniken in Mulhouse und Strasbourg konnten wegen Besonderheiten, die im Bericht näher erläutert werden, nicht in die länderbezogene Analyse einbezogen werden.)

Die Unterschiede, die sich bei einem Vergleich der Rehabilitationseffekte zwischen den verschiedenen Kliniken zeigen, sind u.E. am ehesten als Auswirkungen der unterschiedlichen Rehabilitationsprogramme zu erklären – und zwar dergestalt, dass die Effekte vor allem im Bereich der „Funktionsfähigkeit in Beruf und Alltagsleben“ auf längere Sicht um so besser ausfallen, je stärker die Pogramme auf Aktivierung der Patienten ausgerichtet waren. Die Studie hat sich so – unbeabsichtigt, aber nicht unwillkommen – zu einer vergleichenden Therapiestudie ausgeweitet, die insofern bereits Konsequenzen gezeigt hat, als im RehaKlinikum Bad Säckingen für Rückenschmerz-Patienten ein neues Rehabilitationsprogramm mit stark aktivierenden Elementen systematisch erprobt wird.

Aus der großen Zahl von Einzelergebnissen der INTERREGIO-Studie verdienen folgende, besonders hervorgehoben zu werden:

  • In den somatischen (Schmerzen, Symptome) und psychosozialen Bereichen der eingesetzten Fragebogeninstrumente haben sich in allen beteiligten Kliniken am Ende der Rehabilitation Verbesserungen ergeben, die als „befriedigend“ bis „gut“ einzustufen sind und für die Patienten eine deutlich spürbare Entlastung bedeuten.
  • Im funktionalen Bereich („Funktionsfähigkeit in Beruf und Alltagsleben“) haben sich am Ende der Rehabilitation in der deutschen und den beiden schweizerischen Kliniken nur kleine positive Effekte gezeigt, während in der französischen Klinik eine Verschlechterung registriert wurde, die z.T. als „Kur-Reaktion“ zu interpretieren sein dürfte, wie sie in der balneologischen Forschung als charakteristisch für die zweite bis dritte Woche einer „Kur“ beschrieben worden ist. Zu den Messungen im funktionalen Bereich ist insgesamt anzumerken, dass dieser Bereich von den Patienten wohl auch erst mehrere Wochen nach Ende der Rehabilitation zutreffend eingeschätzt werden kann.
  • Sechs Monate nach Ende der Rehabilitation haben sich die Verbesserungen im somatischen und psychosozialen Bereich für die Patienten aus allen Kliniken auf kleine Effekte reduziert. Lediglich in den beiden schweizerischen Kliniken konnten im somatischen Bereich noch mittlere Effekte nachgewiesen werden.
  • Im funktionalen Bereich stellen sich sechs Monate nach Reha-Ende die Effekte in allen Kliniken besser dar als direkt am Ende der Rehabilitation. In der deutschen Klinik erreichen sie aber auch dann nur ein „ausreichendes“ Ausmaß. In der französischen Klinik geht die Verschlechterung, die zu Reha-Ende konstatiert worden war, zwar zurück, bleibt aber immer noch im negativen Bereich. Plausibel interpretiert werden kann dieses Ergebnis eigentlich nur dadurch, dass balneologische Anwendungen allein kein geeignetes Mittel darstellen, um die „Funktionsfähigkeit“ bei Rückenschmerz-Patienten zu verbessern. In diese Richtung weist auch die Tatsache, dass in den beiden schweizerischen Kliniken – mit ihrer stärkeren Ausrichtung auf aktivierende Therapieelemente – im funktionalen Bereich die relativ besten Ergebnisse erzielt werden konnten.
  • Die Effekte der Rehabilitation wurden von den behandelnden Ärzten durchgängig besser beurteilt als von den Patienten selbst – und zwar auch dann, wenn sich in den medizinischen Parametern keine deutlichen Veränderungen gezeigt haben. Dies kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass die Arzteinschätzungen des Rehabilitationserfolgs von den verbalen Äußerungen der Patienten beeinflußt werden, die ihrerseits am Ende der Rehabilitation durch generelle Zufriedenheit und Dankbarkeit überlagert sind. Um diese Fehlerquelle zu begrenzen, sollte in wissenschaftlichen Untersuchungen zu den Effekten der Rehabilitation grundsätzlich sowohl die Arzteinschätzung als auch die Selbsteinschätzung der Patienten als Datenquelle genutzt werden.
  • Wichtige Unterschiede zwischen Arzt- und Patienteneinschätzung haben sich auch bei der Nennung von Rehabilitationszielen gezeigt: Die Patienten haben deutlich häufiger als die Ärzte angegeben, dass sie von der Rehabilitation gerade auch im psychosozialen Bereich eine Verbesserung von Belastungen erwarteten. Anscheinend wird diese Erwartung der Patienten in den Rehabilitationskliniken immer noch unterschätzt und sollte künftig stärker berücksichtigt werden.

Als Resümee der Untersuchungen zur Effektivität der Rehabilitationsprogramme, die in den Studienkliniken für Patienten mit chronischen Rückenschmerzen durchgeführt wurden, bleibt festzuhalten, dass die Effekte im Rahmen dessen liegen, was internationale Meta-Analysen zu diesem Thema ergeben haben: „Chronische Rückenschmerzen“ stellen nicht nur in sozio­ökonomischer, sondern auch in therapeutischer Hinsicht eine ausgesprochene Herausforderung dar, weil sie sich einfachen Therapie- und Rehabilitationskonzepten entziehen. Ansatzpunkte für gezielte Weiterentwicklungen haben sich in der INTERREGIO-Studie gezeigt: Vor allem im funktionalen Bereich erscheint eine Verbesserung der Effekte durch eine stärkere Einbeziehung aktivierender Therapieelemente möglich. Bei der enormen sozio-ökonomischen Bedeutung des Syndroms „chronische Rückenschmerzen“ wird man nicht umhin kommen, solche Ansätze aufzugreifen und kontinuierlich an einer Verbesserung der Rehabilitationsprogramme zu arbeiten. Und dieses Fazit gilt in den drei Ländern der Regio in gleicher Weise – ungeachtet aller Unterschiede in den Systemen der sozialen Sicherung und der gesundheitlichen Versorgung.