„Ergebnisorientierte Vergütung der Rehabilitation nach Schlaganfall“ (ERGOV)

„Ergebnisorientierte Vergütung der Rehabilitation nach Schlaganfall“ (ERGOV)

 

Das Gesamtprojekt wird bereits seit dem Jahre 2001 wissenschaftlich vom HRI begleitet. Ziel des Projekts ist es, am Beispiel der neurologischen Rehabilitation nach Schlaganfall ein neues Vergütungsverfahren zu entwickeln und zu erproben, das für die Leistungsträger kostenneutral ist und für die Kliniken finanzielle Anreize setzt, bei ihren Patienten möglichst gute Rehabilitationsergebnisse zu erzielen. Mit diesem Verfahren sollen die dysfunktionalen Anreize ausgeglichen werden, die unter der Maxime der Ertragsoptimierung von den beiden üblichen Vergütungssystemen ausgehen: Tagesgleiche Pflegesätze enthalten den Anreiz, die Aufenthaltsdauer zu verlängern und die Therapie möglichst gering zu halten; Fallpauschalen dagegen fordern implizit dazu auf, sowohl die Reha-Dauer als auch die therapeutischen Maßnahmen auf das Nötigste zu beschränken.

Das ERGOV-Verfahren ist als „Qualitätswettbewerb“ der Kliniken mit einem wissenschaftlichen Institut (HRI) als „Schiedsrichter“ konzipiert. Kliniken mit überdurchschnittlichen Reha-Effekten sollen einen Bonus erhalten, der durch den entsprechenden Malus aus den Kliniken mit unterdurchschnittlichen Effekten finanziert wird.

In einem kontinuierlich vom HRI wissenschaftlich begleiteten Prozess wurden seit dem Projektbeginn die methodischen Voraussetzungen für das neue Vergütungssystem entwickelt und in zwei multizentrischen Studien an großen Fallzahlen erprobt.

Dazu wurde in der Projektstufe SINGER-I (2001-2004) zunächst ein neues Assessment-Instrument entwickelt und ausführlich getestet, mit dem die patientenseitigen Ergebnisse der Rehabilitation in einer reliablen, validen und veränderungssensitiven Weise gemessen werden können. Dieses Instrument wird als „Selbständigkeits-Index für die Neurologische und Geria­trische Rehabilitation“ (SINGER) bezeichnet. Die Auswahl der Items orientierte sich an der „International Classification of Health, Disabilities and Functioning“ (ICF) der Weltgesundheitsorganisation sowie an bewährten Instrumenten wie Barthel-Index oder Functional Independence Measure (FIM), wobei einige Schwächen dieser Instrumente ausgeglichen werden sollten (mangelnde Differenziertheit beim Barthel sowie zu ab­strakte Stufenbeschreibungen und nur mäßige Beurteiler-Übereinstimmung beim FIM).

Das wichtigste Charakteristikum des SINGER betrifft die sechs Abstufungen, mit denen die Selbständigkeit eines Patienten für jedes der 20 Items auf einer Skala von 0 – 5 eingestuft werden kann. Die Stufen des SINGER orientieren sich dabei nicht amAusmaß der Hilfebedürftigkeit (wie im FIM: z.B. „25 – 50% selbständig“), sondern an der Art des Hilfebedarfs, die in folgende sechs Stufen aufgeteilt wurde:

0   totale Abhängigkeit von professioneller Hilfe

1   professionelle Kontakthilfe erforderlich bei Fähigkeit des Pat. zur Mitwirkung

2   Kontakthilfe durch unterwiesene Laien (oder ambulante Dienste) ausreichend

3   Supervision oder Vorbereitung durch Laienausreichend; keine Kontakthilfe nötig

4   selbständig mit Hilfsmittel bzw. verlangsamt

5   selbständig ohne Hilfsmittel

 

 

Die folgende Übersicht stellt die inhaltliche Struktur des SINGER zusammenfassend dar:

 

Abb. 1:  Inhaltliche Struktur des SINGER
„Selbständigkeits-Index für die Neurologische & Geriatrische Rehabilitation“ (SINGER)

Aktivitäten zur Selbst­versorgung
und Mobilität
Kommunikative und kognitive
Aktivitäten
  Selbstversorgung  (Pflege & Ergo)   Kommunikation  (Logopädie)
01 Essen, Trinken 12 Hörverstehen
02 Anziehen / Ausziehen 13 Sprechen
03 Waschen, Baden, Duschen 14   Lesen & Lesesinnverständnis
04 Pers. Hygiene(Zähneputzen etc.) 15 Schreiben
05 Stuhlkontrolle
06 Harnkontrolle   Kognitive Aktivität  (Neuropsychologie)
07 Toilettengang 16 Orientiertheit & Gedächtnis
  Mobilität   (Physio- & Ergotherapie) 17 Konzentration
08 Transfer Bett – (Roll-) Stuhl 18 Planen & Problemlösen
09 Rollstuhlbenutzung 19   Soziales Verhalten
10 Gehen
11 Treppensteigen 20 Haushaltsführung (zu „Mobilität“)

 Bei der Validierung des Instruments in einer ersten Pilotstudie (n=100) und in der Feldstudie des SINGER-II Projekts (n=1.058 s.u.) zeigten sich ausgesprochen gute Ergebnisse für alle relevanten biometrischen Kennwerte. Besonders hervorzuheben sind die gute Beurteiler­Übereinstimmung (inter-rater-reliability) und die hohe interne Konsistenz eines Summenscores aus allen 20 Items, die es erlaubt, die Klinikvergleiche der Ergebnisqualität auf den SINGER-Summenscore (Wertebereich 0 – 100 Punkte) als einzigen Kennwert zu beziehen.

 

In der zweiten Projektstufe SINGER-II (2005-2006) wurde in einer Feldstudie an 1.058 Schlaganfallpatienten aus 13 neurologischen Fachkliniken ein regressionsanalytisches Verfahren erprobt, mit dem der unterschiedliche case-mix in den Kliniken ausgeglichen werden kann, so dass bei Vergleichen der Ergebnisqualität faire Ausgangsbedingungen für alle Kliniken gewährleistet sind. Dazu wurde ein Regressionsmodell entwickelt, das mit sieben „Prädiktoren“ (d.h. Patientenmerkmalen, die bei Aufnahme erhoben wurden) und der Reha-Dauer den Entlassungswert im Summenscore des SINGER mit der sehr hohen Treffsicherheit („Varianzaufklärung“) von 84,4%vorhersagen konnte. Auf der Grundlage der prognostizierten Entlassungswerte kann der Einfluss der Prädiktoren aus den Reha-Effekten „herausgerechnet“ und der unterschiedliche case-mix in den Kliniken ausgeglichen werden.

Die Differenz zwischen dem vorhergesagten und dem tatsächlichen Entlassungswert wird als „Residualwert“ bezeichnet. Die klinikspezifischen Mittelwerte der Residuen bilden gleichzeitig die Bezugsgröße zur Berechnung des Bonus bzw. Malus für die einzelnen Kliniken, die in der SINGER-II-Studie lediglich in fiktiver Weise vorgenommen wurde und keine finanziellen Auswirkungen für die Kliniken hatte. In Tab. 1 ist dargestellt, wie die Bonus-Malus-Verteilung in unserer Stichprobe aussehen würde. Der „Multiplikator“ (in Spalte 3) fungiert als „Stellschraube“, über die die finanziellen Auswirkungen der Unterschiede frei reguliert werden können. In unserem Beispiel wurde ein Multiplikator von 20 eingesetzt; würde er beispielsweise verdoppelt, würden sich entsprechend auch alle aufgeführten Beträge verdoppeln. Die in Spalte 3 aufgeführten Beträge stellen gleichzeitig den Bonus bzw. Malus pro Fall dar. Multipliziert mit der Fallzahl (Sp. 4) ergibt sich der Bonus bzw. Malus für die einzelnen Kliniken (Sp. 5).

 

Tabelle 1:      Bonus-Malus-Verteilung nach Kliniken

1 2 3 4 5
Klinik MW
Residuen
Multiplikator
(z. B. 20)
n = Bonus /
Malus
901 1,417 28,34 69 1.966,46
902 -1,570 -31,40 43 -1.350,20
903 4,918 98,36 97 9.540,92
904 1,535 30,70 119 3.653,30
905 -1,991 -39,82 48 -1.911,36
906 -2,638 -52,76 72 -3.798,72
911 0,646 12,92 101 1.304,92
912 -0,772 -15,44 34 -524,96
913 -2,048 -40,96 81 -3.317,75
914 0,246 4,92 33 162,36
915 -2,029 -40,58 98 -3.976,84
921 -0,002 -0,04 65 -2,60
922 -1,427 -28,54 60 -1.712,40

In der gerade abgeschlossenen dritten Projektstufe SINGER-III (2007-2008) wurde ein internetbasiertes Programm („SINGER-online“) zur Eingabe von SINGER-Daten in den Kliniken eingesetzt. Dieses Programm stellt die Qualität der eingegebenen Daten sicher und ermöglicht jederzeit klinikvergleichende Auswertungen über den gesamten Datenpool aus allen teilnehmenden Kliniken.

In das Programm ist ein „MDK-Portal“ integriert, das von ärztlichen MitarbeiterInnen des MDK genutzt wird, um stichprobenartige Kontrollen der Dateneingaben in den Kliniken vorzunehmen und so zu gewährleisten, dass alle teilnehmenden Kliniken sich an die Prinzipien eines fairen Qualitätswettbewerbs halten. Bei der letzten Zwischenauswertung lagen aus den 12 teilnehmenden Kliniken insgesamt n = 618 abgeschlossene Fälle vor. Davon sind die SINGER-Einstufungen bei Aufnahme in 24,6%  und bei Entlassung in 18,8% aller Fälle vom MDK überprüft worden. Die vorgegebene Prüfquote von ca. 10% ist damit deutlich überschritten worden. Bei den Aufnahmewerten ergab sich in 77,6% aller geprüften SINGER-Items eine punktgenaue Übereinstimmung zwischen MDK und Klinik, und die Summe aller positiven und negativen Abweichungen lag insgesamt nahe bei Null. Bei den Entlassungswerten fiel die Quote punktgenauer Übereinstimmungen mit 83,3% noch deutlicher aus. Bezogen auf die einzelnen Kliniken zeigten sich keine Abweichungsmuster, die mit zu niedrigen Einstufungen bei der Aufnahme und zu hohen bei der Entlassung Hinweise auf eine systematische ‚Optimierung’ der Einstufungen durch eine der beteiligten Kliniken geben könnten.

 

Ausblick

Mit dem hier vorgestellten Verfahren stehen ausführlich erprobte und wissenschaftlich geprüfte Vorgehensweisen für eine ergebnisorientierte Vergütung der Rehabilitation nach Schlaganfall zur Verfügung. Das Verfahren ist voll funktionsfähig und könnte bereits jetzt „scharf geschaltet“ werden. Da sich in den beiden Studien SINGER-II und SINGER-III jedoch gezeigt hat, dass die Unterschiede zwischen den beteiligten Kliniken relativ gering ausfallen, soll in einer weiteren Studie zunächst geprüft werden, ob die prädiktorenkontrollierten Effekte eine größere Spannweite zeigen, wenn Kliniken einbezogen werden, die bisher nicht an dem Verfahren beteiligt waren. Zu wünschen wäre außerdem, dass weitere Leistungsträger einbezogen werden können, um für die Kliniken die Attraktivität eines Qualitätswettbewerbs weiter zu erhöhen, der direkt auf möglichst gute Effekte bei den Patienten abzielt.